Qualitätsbericht 2021 33 | 72 Welche Bedeutung haben ethische Fragestellungen im Medizinstudium und in der Pflegeausbildung? Aus Sicht der Ethik ist es wichtig, dass sich beide Professionen mit Werten auseinandersetzen und im Spitalalltag Wertekonflikte erkennen können. Die moderne Medizin ermöglicht es, das Leben eines Menschen auch in extremen Situationen zu verlängern. Der Preis dafür ist nicht selten Therapie, die mit einer hohen Belastung einhergeht. Das wirft Wertefragen auf. Die Betroffenen müssen beurteilen, wie stark eine Therapie ihre Lebensqualität beeinträchtigt und ob sie das für eine Lebensverlängerung in Kauf nehmen wollen. Sind sie nicht mehr urteilsfähig, müssen die Fachpersonen diese Abwägungen vornehmen, indem sie den mutmasslichen Willen sowie die beiden Prinzipien «Gutes tun» und «Nicht schaden» berücksichtigen. Wenn Menschen ihre Autonomie verlieren, also nicht mehr über Therapien oder lebensverlängernde Massnahmen entscheiden können: Welche Werte müssen besonders geschützt werden? Die Würde des betroffenen Menschen muss immer respektiert werden, auch wenn dessen Wünsche nicht mehr gedeutet werden können. Das bedeutet: Er muss mit demselben Respekt behandelt werden wie urteilsfähige Patientinnen und Patienten. Was therapeutische Entscheidungen betrifft: Bis zu einem gewissen Grad können Patientenverfügungen oder Angehörige die verlorene Autonomie kompensieren. Sie wissen am ehesten, wie der betroffene Mensch in der aktuellen Situation entschieden hätte. Auch die Pflegenden können zur Entscheidfindung beitragen, indem sie den betroffenen Menschen genau beobachten und daraus Rückschlüsse auf seine Bedürfnisse ziehen. Wir sprechen dabei von Care-Ethik. Wo sehen Sie in Ihrer Tätigkeit die grössten Herausforderungen? In den Fallbesprechungen: Die Komplexität der Situationen ist meist hoch. Und wir müssen die Fragen fast immer unter Zeitdruck klären. Hinzu kommt, dass die Situationen aufwühlen. Emotionen zuzulassen und gemeinsam auszuhalten, ist Teil des Prozesses. Die Ethik argumentiert mit rationalen Argumenten und hilft, Entscheidungen durch sachliches Ab- wägen von ethischen Prinzipien zu strukturieren und zu treffen. Wenn Sie auf Ihre dreijährige Tätigkeit in der Lindenhofgruppe zurückblicken: Welche Entwicklung sehen Sie? Die Sensibilität für ethische Fragestellungen steigt. Entsprechend erhalte ich mehr Anfragen für Fallbesprechungen als zu Beginn. Die Rückmeldungen aus den Teams zeigen mir, dass das Gefäss dazu beiträgt, die für die Patientinnen und Patienten gute Lösung zu finden sowie die Teams fachlich zu unterstützen und zu entlasten. Das freut mich sehr.
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