«Die meisten unserer Patientinnen und Patienten können wir mit guten Nachrichten erfreuen.»

Eine genetische Beratung birgt zahlreiche Chancen. Für Betroffene, aber auch für Angehörige. Ein Gespräch mit PD Dr. med. B. Conrad, Facharzt Medizinische Genetik am Onkologiezentrum Bern.

Welche Rolle spielt genetische Beratung bei der Krebsprävention?
B. Conrad: Eine äusserst wichtige Rolle. Sie hilft uns, über betroffene Patientinnen und Patienten die Menschen zu erkennen, die eine genetische Veranlagung für eine Krebserkrankung haben. Ist eine Veranlagung vorhanden, können wir auch bei nahen Angehörigen Risiken abklären. Dieser Prozess nennt sich «Cascade Genetic Testing». Ein Prozess, den man in der breiten Bevölkerung umsetzen kann. Er ermöglicht es, Risikopatientinnen und -patienten frühzeitig zu identifizieren und präventive Massnahmen einzusetzen.

Das ist sozusagen die Vorsorge der Vorsorge?
B. Conrad: Absolut. Die Patientinnen und Patienten profitieren in jedem Fall – ob sie eine Veranlagung haben oder auch nicht. Und auch die Angehörigen. Denn wenn wir Patientinnen oder Patienten beraten, bestimmen wir über spezifische Modelle die Risiken einer Erkrankung. Anhand der Ergebnisse entwickeln wir dann persönliche Empfehlungen für die Therapie und zur Vorsorge.

Wie läuft ein solcher Test ab?
B. Conrad: Typischerweise kommen die betroffenen Patientinnen und Patienten über zuweisende Ärztinnen und Ärzte zu uns. Die Kolleginnen und Kollegen wissen schon aus Erfahrung, wann eine genetische Beratung infrage kommt. Dazu haben wir im Vorfeld bereits Guidelines entwickelt. Gemäss den gesetzlichen Vorgaben beraten wir die Betroffenen zunächst vorab. Dabei erklären wir den Betroffenen, was ein Test beinhaltet und wie wir mit den Resultaten umgehen.

Wie hilft eine genetische Beratung, die Behandlung besser auszurichten?
B. Conrad: Die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit und ohne Veranlagung ist sehr verschieden. Nehmen wir das Beispiel Brustkrebs: Stellt sich heraus, dass jemand nicht erblich vorbelastet ist, empfehlen wir innerhalb von 10 Jahren jährlich eine Mammografie und eine Ultraschall-Untersuchung. Können wir jedoch eine Veranlagung für eine Brustkrebserkrankung nachweisen, empfehlen wir – auch jungen Betroffenen –, vorsorglich die Brustdrüsen zu entfernen. Ab einem Alter von 35 bis 45 Jahren raten wir zudem, auch die Eierstöcke beidseitig zu entfernen.

Gilt das auch bei einer Veranlagung zu beispielsweise Dickdarmkrebs?
B. Conrad: Mit einer Veranlagung zu Dickdarmkrebs sind andere Erkrankungen verknüpft, wie Magenkrebs oder Bauchspeicheldrüsenkrebs. Und damit wiederum andere Massnahmen zur Behandlung oder Vorsorge.

Kommen Patientinnen und Patienten auch auf anderen Wegen zu Ihnen?
B. Conrad: Wir beobachten vielfach, dass Nachkommen von an Krebs erkrankten Personen die Betroffenen zu einer genetischen Beratung drängen. Häufig schreckt sie der Krankheitsverlauf der nahestehenden Angehörigen auf. Daher möchten sie ihr eigenes Risiko einer Krebserkrankung besser einschätzen können.

Beeinflussen auch prominente Fälle, wie der von Angelina Jolie, das Interesse an einer genetischen Beratung?
B. Conrad: Keine Persönlichkeit ist so sehr mit dem Thema genetische Beratung verknüpft wie Angelina Jolie. Ihr Fall hat einen Quantensprung bei der Anzahl der Brustdrüsen-Entfernungen ausgelöst. Sowohl bei Frauen mit als auch ohne genetische Veranlagung.

Noch einmal zum Thema Darmkrebs: Können Sie bestätigen, dass Erkrankungen immer häufiger auch bei jüngeren Patientinnen und Patienten auftreten?
B. Conrad: Ja, sowohl die Anzahl der Patientinnen und Patienten unter 50 Jahren und sogar unter 35 Jahren hat zugenommen. Als Gründe dafür diskutiert man den industriellen Ernährungsstil, Übergewicht und nicht ausreichende Bewegung. Zusammen tragen diese Faktoren sicher zu einem Anstieg der Erkrankungen bei.

Ab welchem Alter empfehlen Sie eine genetische Beratung?
B. Conrad: Alle, die ab einem Alter von 50 Jahren an Darmkrebs erkranken, sollten sich beraten lassen. Bei Brustkrebs liegt die Altersgrenze ebenfalls bei etwa 50 Jahren und darunter. Und natürlich auch bei einer Erkrankung in jüngeren Jahren.

Wie häufig können Sie eine Veranlagung zu Dickdarmkrebs feststellen?
B. Conrad: Bei einer Untersuchung von Blutspendern liegt die Häufigkeit einer genetischen Veranlagung bei 1 zu 300. Bei Betroffenen mit einer Darmkrebserkrankung ist das Ergebnis selbstverständlich höher. Es entspricht einer Quote von etwa 1 zu 10 oder sogar 1 zu 5. Das heisst, es ist wesentlich wahrscheinlicher, keine Veranlagung zu haben. Eine gute Nachricht. Denn das bedeutet, dass wir die meisten unserer Patientinnen und Patienten mit guten Nachrichten erfreuen können. Das Schönste daran ist, dass dies dann auch für die Angehörigen gilt.

Was raten Sie Ihrer Familie und Ihren Freundinnen und Freunden zum Thema Vorsorge?
B. Conrad: Ich selbst betreibe aktiv Vorsorge. Insofern predige ich Wasser und trinke es auch selbst. Körperliche Bewegung ist dabei wichtig. Ihre Wirkung ist so gut dokumentiert, dass man auch ihren Erfolg beziffern kann. Eine mässige Intensität von 150 Minuten pro Woche reduziert das Risiko einer Erkrankung bei 13 Krebsformen. Auch Ernährung spielt eine grosse Rolle. Und natürlich regelmässige Untersuchungen zur Vorsorge.

Haben Sie eine persönliche Botschaft, die Mut macht?
B. Conrad: Geht man mit einer positiven Einstellung ins Leben, geht vieles leichter – besonders in schwierigen Situationen. Hier kann man viel von Krebspatientinnen und -patienten lernen. Sie kommunizieren das auch spontan. Mit einer Erkrankung verschieben sich die Prioritäten, man sieht das Leben anders. Von diesen Menschen lerne ich mehr als sie von mir.

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